Schöner Neuer Himmel von Ines Geipel
Freitag, der 20. Mai 2022Der Neue Mensch ist (k)eine alte Geschichte
„Schöner Neuer Himmel – Aus dem Militärlabor des Ostens“ von Ines Geipel, im Mai 2022 erschienen bei Klett-Cotta, nimmt das Weltraumprogramm der Sowjetunion und die dadurch in den frühen 1970er Jahren ausgelöste Forschung der DDR in den Blick.
Ziel dieser Weltraumforschung war die Beherrschung des Kosmos, dafür nötig war die Erschaffung des möglichst bedürfnislosen menschlichen Körpers, musste dieser doch im All überleben — unter kommunistischen Vorzeichen. Zur Seite stand dem Vorhaben eine Ideologie aus der Stalin-Ära und der bioutopischen Schulen des alten Russlands: Die Erschaffung des „Neuen Menschen“.
Es kann Ines Geipel nicht hoch genug angerechnet werden, dass sie sich immer wieder brisanten gesellschaftlichen Fragen stellt, auch ihr neues Buch ist außerordentlich aktuell. Der „Neue Mensch“ mit seiner Radikalität und Entgrenztheit, mit seiner propagierten Überlegenheit in Bezug auf angeblich Minderwertige ist eine alte und gleichzeitig sehr gegenwärtige Geschichte. Die auf das Überleben im Kosmos ausgerichtete Forschung war eine Realität in den Laboren des Ostens, über die Annäherung an diese Realität schreibt Ines Geipel, über ihren Weg durch die Behörden und Archive, über extrem belastende Experimente an Tieren und an Menschen, an „sensorisch deprivierten Patienten“. In das Kosmos-Programm gerieten vor allem jene, auf die das Machtsystem unmittelbar Zugriff hatte: Gefängnisinsassen, Patienten in Krankenhäusern, Soldaten und Sportler.
Jacob, ein Suchender
Einer von ihnen ist Jacob, der sich an die Autorin wendet. Sie ist dank ihrer herausragenden Arbeit in der Doping-Opfer-Hilfe, ihres Engagements für die Aufarbeitung der DDR-Diktatur und ihrer zahlreichen Romane und Sachbücher sichtbar für Betroffene, die auch jetzt noch, Jahrzehnte später, auf der Suche nach Klärung sind, die nach ihrer Inanspruchnahme als Versuchsobjekte wieder als Individuen heraustreten möchten aus all den Zahlen, Daten, Diagrammen. So wie Jacob. Er hat nur vage Erinnerungen an eine mehrwöchige Zeit Mitte der 70er Jahre. „Er erzählte was von Nadeln, Drähten, Biopsien.“ Jacob war ihr ausgesetzt gewesen, der Erforschung des Körpers unter extremen Bedingungen.
Ines Geipel recherchiert, was in Laboren, Instituten und Forschungseinrichtungen mit den Menschen gemacht wurde. Sie stellt die Frage, was davon Jacob erfahren sollte: „Wie viel Nachträglichkeit verträgt so ein Leben?“, ein typischer Ines-Geipel-Satz, empathisch, klug. Jacob bleibt ein Anonymer, ein Codierter. Die Literatur schafft es, ihn vor dem Verschwinden zu bewahren. Nur sie.
Die Sprache von Ines Geipel
Ines Geipel gelingt es meisterhaft und in ihrer unverwechselbaren Sprache, über Hybris und Entgrenzung zu schreiben. Ihre warme, prägnante Prosa verbindet beklemmende, oft abstrakte Forschungsthemen: Überwindung des organbezogenen Denkens, Strahlenkörper, Interplanetarismus, Biosatelliten.
„Mitunter kommen mir Wörter so nah, dass mir regelrecht schwindlig wird. Sie werden zu stark, zu dicht, zu kompakt. Sicher, ich verstehe, wir sind hier beim Militär. Es geht ums Überwinden und Beherrschen. Trotzdem hat es den Anschein, als müssten sich die Wörter erst noch selbst begreifen.“
Bedeutung des Buches
Ines Geipel zeigt in „Schöner Neuer Himmel“ auch das Zusammenwirken zweier Systeme: Kosmosforschung und Leistungssport. Die Ergebnisse der Sportmedizin flossen in die Kosmosforschung ein, schließlich wurden auch fürs All widerstandsfähige Körper gebraucht. Anabolische Steroide, also männliche Sexualhormone, verhinderten den Muskelabbau in der Schwerelosigkeit.
Auch heute wird geforscht, auch heute fliegt man ins All. Doch Ines Geipel legt überzeugend dar, dass es für den einzelnen Menschen einen Unterschied macht, ob er sich freiwillig und aufgeklärt einer Sache verschreibt oder ob er aufgrund von gleichgeschalteter Wissenschaft in alle möglichen Richtungen verwertet wird. „Dabei ist der Körper unter der Diktatur eine extreme Exposition. Eine Kampfstätte und ein Exerzierplatz. Er ist ein Raum der Macht und damit auch ihrer Visualisierung, Demonstration und Inszenierung.“
Auf Unversehrtheit zu bestehen war schwer in der DDR, diente die Wissenschaft doch dem Wohle des Volkes. Es war verdächtig und mitunter unmöglich, da nicht mitmachen zu wollen – insofern man überhaupt darüber informiert wurde, dass man Teil der praktizierten Ideologie geworden war. Zudem unterlag die Kosmosforschung der Geheimhaltung.
„Die Täter waren über die Ideologie legitimiert und somit entlastet, von daher gab es keine. Im Ergebnis löste das Regime sowohl Unrecht als auch Verbrechen aus der Moral heraus. Eine Art Diffusionstechnik. Als würde Milch in Wasser träufeln, bis die Welt nur noch trübe erschien, im Zustand eines Blicks, bei dem niemand für nichts mehr verantwortlich ist, auch im Nachhinein nicht.“
Dieser Satz zeigt eine schmerzhafte Wahrheit: Auch heute bleiben viele Opfer allein mit sich. Wo soll man anfangen, wenn der Blick dermaßen verklärt ist und es Kräfte gibt, die eine Klarheit auch heute noch verhindern wollen?
Es wird Widerstände gegen dieses Buch geben, wie so oft, in der öffentlichen Wahrnehmung und ganz konkret. Ines Geipel: „Die alte Ohnmacht der Opfer und die alte Macht der Täter, die sich im Hier und Jetzt ein zweites Mal gegenüberstanden.“ Und: „Aufarbeitung ist fragil. Es geht vor und zurück. Mitunter fängt man auch wieder bei minus Null an.“
Die minus Null mag für die gesamtgesellschaftliche Debatte gelten, doch für die betroffenen Menschen ist das Werk von Ines Geipel schon lange ein Zugewinn weit auf der Habenseite, schließlich können Erkenntnis und Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen der früheren Belastung entgegenwirken. Und das Kenntlichmachen von Verantwortlichkeiten wiederum birgt das Potential, alte Mächte nachträglich etwas zu begrenzen.
Rezension von Dorit Linke
„Schöner Neuer Himmel – Aus dem Militärlabor des Ostens“ von Ines Geipel
erschienen bei Klett-Cotta
Buch und Leseprobe sind hier erhältlich
Klett-Cotta – Schöner Neuer Himmel – Ines Geipel
Webseite von Ines Geipel
Ines Geipel
Buchbesprechungen
Buchkritik SWR2 von Doris Maull
https://www.swr.de/swr2/literatur/ines-geipel-schoener-neuer-himmel-100.html
Buchkritik Bayern 2 von Antonio Pellegrino
https://www.br.de/mediathek/podcast/lesungen/ines-geipel-schoener-neuer-himmel-1/1856700
Sonstige Bildnachweise:
Cover: Rothfos und Gabler, Hamburg
Buch mit Baum: Dorit Linke
spaceship 1965, stamp, DDR, OlgaDrozdova iStockstamp 1961, Russia, marlenka, iStock
Literaturtipp: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass
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