Das Ende des Jugendwerkhofs Torgau
Sonntag, der 5. Januar 2020In den Jugendwerkhof Torgau, einem früheren Gefängnis, wurden zu Zeiten der DDR über 4.000 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren willkürlich und ohne richterlichen Beschluss zu Umerziehungsmaßnahmen eingewiesen. Sie waren dort militärischem Drill, Isolation und Misshandlungen ausgesetzt. Die meisten Jugendlichen zerbrachen an ihrer Verzweiflung, manche sahen keinen Ausweg und nahmen sich das Leben.
Im Zuge der friedlichen Revolution im November 1989 wurde der Jugendwerkhof vom Ministerium für Volksbildung überstürzt aufgelöst und die sofortige Dokumentenvernichtung angeordnet.
Meine Kurzgeschichte aus dem Jahr 2007 erzählt aus der Sicht eines Erziehers und soll die Haltung zeigen, die im Umgang mit unangepassten Kindern und Jugendlichen in der DDR vorherrschte.
Im anderen Licht
von Dorit Linke, Berlin 2007, Wettbewerbsbeitrag des Autorinnenforums
Gestern kam der Anruf aus dem Ministerium. Wir sollen die Jugendlichen in ihre Stammeinrichtungen zurückführen und alle Dokumente vernichten.
Kurt, der schräg vor mir sitzt, ist eifrig dabei. Obwohl wir ihn nicht darum gebeten haben, erläutert er uns die Situation. Wir verbrächten die Nacht nur deshalb hier, weil sich auf dem Alexanderplatz ein paar Uneinsichtige und vom Westen Aufgestachelte zusammengerottet und den Wunsch nach freien Wahlen geäußert haben.
Ich höre seinem Geschwätz nicht zu. Eine Seite nach der anderen zerreiße ich und stopfe die Schnipsel in schwarze Säcke, die ich auf den hell erleuchteten Flur trage, vorbei an ungewohnt leeren Regalen. Obwohl auch in anderen Räumen gearbeitet wird, ist es still im Haus.
Mir gegenüber wühlt sich Monika durch einen Haufen Papier. Fortwährend streicht sie ihre grüne Bluse glatt und sieht hinaus in die Dunkelheit. Sie ist nervös, weil sie den Zweck unserer Arbeit aus den Augen verliert. Lies nicht alles, was dir in die Hände fällt, ermahne ich sie, doch sie beachtet mich nicht. Auf die Art werden wir nie fertig.
Sven M., geboren am 28.3.1972. Mitteilung an die Eltern, dass ihr Sohn mit Genehmigung des Ministeriums für Volksbildung in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau verlegt wurde. Er blieb fast sechs Monate. Nach seiner Ankunft heulte er jeden Tag, doch die Jungen seiner Gruppe machten ihm schnell klar, was sie von seinem Gejammer hielten. Erziehung im Kollektiv ist ein wirksames Mittel.
Kurt erklärt uns gerade, warum die Anderen unsere Arbeit nicht verstehen werden. Wen meinst du damit, frage ich leise. Der Klang meiner Stimme warnt ihn. Nun ja, entgegnet er, wirft eine leere Akte auf den Boden und greift zum nächsten Schriftstück. Sein unordentlicher Arbeitsplatz spricht für sich. Keine Linie, keine Besonnenheit. Doch auch die Verantwortlichen im Ministerium sind in Eile. Offenbar kommt den Genossen nicht in den Sinn, dass unsere Aktion bei Nacht und Nebel wie ein Schuldeingeständnis wirkt.
Jochen F., geboren am 15.4.1974, uneinsichtig und provokant. In der Werkstatt aß er Nägel, weil er annahm, wir würden ihn ins Krankenhaus bringen. Für solche Fälle braucht man keinen Arzt. Wir gaben ihm Sauerkraut und steckten ihn in die Arrestzelle. Er hat die ganze Nacht gebrüllt vor Schmerzen.
Kurt fragt in das schlecht gelüftete Zimmer, was wohl die westdeutsche Presse zu unserer derzeitigen Tätigkeit sagen wird. Monikas Züge frieren ein. Das halbdurchgerissene Foto einer langhaarigen Jugendlichen schwebt zwischen ihren Händen.
Die Haare schneiden wir grundsätzlich runter auf zwei Millimeter. Den Jungen macht das kaum etwas aus, abgesehen von den Hippies und den Punks. Die Mädchen heulen und die Skinheads verhöhnen uns, weil die Maßnahme für sie überflüssig ist. Natürlich werden die Opportunisten der Bildzeitung über uns hetzen. Das bedeutet überhaupt nichts.
Dennoch werde ich wütend bei der Vorstellung, wie ein weichgespülter westlicher Pädagoge, der noch nie etwas von Makarenko und den Normen des sozialistischen Zusammenlebens gehört hat, unsere Erziehungsmethoden beurteilt. Wie soll er in seiner dekadenten Welt etwas von Disziplin wissen. Er verbreitet die groteske Idee der antiautoritären Erziehung und predigt Egoismus. Was dabei herauskommt, sehen wir jeden Tag im Fernsehen. Schund, Arbeitslosigkeit, Elend. Die Menschen, die nun wie Schafe blöken, dass sie das Volk seien, sind sich nicht darüber bewusst, welche Geister sie rufen.
Soeben kam wieder ein Anruf, dieses Mal vom Rat des Bezirkes. Die ganze Hierarchie wird jetzt durchlaufen. Die Genossen erkundigen sich nach unseren Fortschritten. Kurt und ich holen neue Akten aus dem Nachbarzimmer. Monika sitzt steif auf ihrem Stuhl und rührt sich nicht. Du arbeitest zu langsam, sage ich.
Ohne mich anzusehen steht sie auf und geht zur Tür. Als sie weg ist, zwinkert Kurt mir zu, als hätten wir etwas gemein. Ich reagiere nicht. Fahrig nimmt er seine winzige Brille ab und putzt sie umständlich. Dann beugt er sich über seinen Schreibtisch.
Monika kehrt zurück und berichtet, dass der Jugendliche, der bis eben unten im Fuchsbau war, die Zelle nicht verlassen will. Da Kurt sich benimmt, als hätte er nichts gehört, ruhen ihre Augen auf mir. Er kann vermutlich nicht laufen, sage ich und stopfe Papierreste in den Sack.
Erschüttert dreht sie sich weg. Ihre Fassungslosigkeit ist nur Theater. Sie weiß ebenso wie ich, dass jeder das fensterlose Kabuff, das zu klein zum Liegen oder Stehen ist, verstört verlässt. Man verliert die Orientierung, oben, unten, rechts und links gibt es da drin nicht mehr. Letztes Jahr hat mich ein Jugendlicher, der vierundzwanzig Stunden im Fuchsbaus gewesen war, nach seinem Namen gefragt. Dieser Zustand ist hart, aber zweckmäßig. Er erhöht die Bereitschaft zur Umerziehung.
Kurt geht hinaus auf den Flur. Monika folgt ihm, weil sie nicht mit mir allein sein möchte. Das beruht auf Gegenseitigkeit.
Die nächste Akte ist umfangreich, oben auf der letzte Eintrag. Vorkommnismeldung: Am 29.4.1988 wurde Patrick B., 1971 in Jena geboren, um 17.25 vom Erzieher in der Isolierzelle erhängt aufgefunden. Die Mutter des Jugendlichen wurde vom Direktor des Jugendwerkhofes persönlich über den Tod ihres Sohnes informiert.
Die Tür öffnet sich wieder. Kurt und Monika stellen Kaffeebecher und Kekse auf den Tisch und diskutieren die aktuelle Direktive des Ministeriums. Das Gebäude soll so umgebaut werden, dass es nicht mehr den Eindruck eines Gefängnisses vermittelt. Monika verzweifelt an der absurden Anweisung der Genossen, trinkt hastig und verbrüht sich. Kaffee spritzt auf eine Akte aus dem Jahre 1981.
Drei Meter hohe Mauern, Suchscheinwerfer, Wachhunde, an den Eckpunkten Wachtürme, vergitterte Fenster und Türen. Unwillkürlich lächle ich, als ich mich frage, wie man sich im Ministerium die Metamorphose zu einem Erholungsheim denn vorstellt.
Dir macht das alles überhaupt nichts aus, fährt mich Monika an. Vor allem ihr Ton überrascht mich. Ich mache mir Sorgen um meinen Mann, verkündet sie. Der ist Major bei der Volksarmee und seit Wochen in Gefechtsbereitschaft.
Soll er gefälligst seine Pflicht tun, sage ich.
Sofort fällt Monika in sich zusammen. Es könnte Bürgerkrieg geben, flüstert sie.
Endlich mal ein vernünftiger Gedanke. Ich wundere mich über das lange Zögern unserer Regierung. Schleunigst Panzer auf die Straße, dann hat auch das blöde Rumgerenne mit den Kerzen ein Ende.
Die Genossen wissen, was zu tun ist, beschwichtigt sie Kurt.
Da bin ich mir nicht sicher. Ich vermeide es, ihn anzusehen. Noch kann er sich nicht entscheiden, wovor er eigentlich Angst hat, charakteristisch für Menschen ohne festen Standpunkt. Er fürchtet sich vor der Partei, vor dem Westen, vor den selbsternannten Menschenrechtlern. Und vor mir.
Udo M.: fünf Tage Arrest wegen Ungehorsam und hartnäckigem Lügen. Beim morgendlichen Sport behauptete er, Knieschmerzen zu haben. Es war Kurt, der dem Jugendlichen sein Schlüsselbund solange ins Gesicht schlug, bis dieser endlich sein Soll erfüllte. Ich fühle mich beobachtet und sehe auf.
Monika starrt mich an. Warum ich Erzieher werden wollte, fragt sie.
Ich zerfetze mehrere Seiten, ziehe den nächsten Ordner heran und öffne ihn unachtsam. Fotos der Jugendlichen häufen sich vor mir, einige gleiten hinunter auf den Boden. Die Jahrgänge geraten durcheinander. Mein Puls steigt. Ich bevorzuge exaktes Arbeiten.
Kurt setzt sich in Position. Fragst du dich nicht auch, ob wir nicht zu hart zu den Kindern waren? Dass ausgerechnet er von mir eine Stellungnahme erwartet, ist eine Unverschämtheit.
Es erscheint nun vieles in einem anderen Licht, sinniert Monika. Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen und verliere einen Moment die Fassung. Wie das, frage ich, reflektiert das Licht plötzlich anders als vor ein paar Tagen?
So meinen wir das doch nicht, entgegnet Kurt herablassend.
Aha, der ehemalige Physiklehrer, ereifert sich Monika.
Ich habe genug von den Mätzchen, stehe auf und trete zum Fenster. Erst jetzt nehme ich den Kaffeegeruch wahr, der im Raum hängt.
Einige Jugendliche laufen im blauen Licht der Dämmerung über den Hof. Sie tragen ihre Zivilkleidung, haben den Werkhofsanzug abgelegt. Ein Junge schiebt seine Hände in die Taschen und schaut am Haus empor. Ich sehe seinen Atem. Es ist kalt für Anfang November.
Vermutlich denkt er an seine Ankunft in Torgau, an das Ende seiner Illusionen. Als er mich sieht, senkt er sofort seinen Kopf und geht auf das schwere Eingangstor zu. Man wird ihm falsche Ideale auftischen und unsere unvollendete Arbeit mit Füßen treten.
Den neuen Menschen erschafft man nicht über Nacht.
Hinter mir arbeiten Monika und Kurt mechanisch, haben einen Rhythmus gefunden. Die Stille, die vom Geräusch reißenden Papiers strukturiert wird, ist wohltuend, mein Puls wieder gleichmäßig.
Am Tor zögert der Junge und bleibt stehen. Hilflos sieht er sich um. Schon jetzt findet er sich nicht mehr zurecht.
Er tut mir nicht leid.
Es ist mir egal, was aus ihm wird.
Sollen die Elemente, die nun aus ihren Löchern kriechen, sich über ihn den Kopf zerbrechen.