“Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück”
Mittwoch, der 14. August 2024Das neue Buch von Ines Geipel
35 Jahre nach dem Mauerfall ist es eine Entscheidung, welche Geschichten wir uns erzählen. Die Fakten liegen auf dem Tisch, dennoch wird Historie aktuell zur Glaubensfrage: Die Medien sind voll von Legenden und Mythen zur DDR, parallel werden die Brüche der schwierigen Transformation Ostdeutschlands in den Vordergrund gerückt. Die Erzählung von den angeblich abgehängten Ostdeutschen verstellt zunehmend den Blick auf die Opfer der ostdeutschen Diktatur und auf die langanhaltenden Auswirkung des autoritären Systems auf Menschen, die die DDR erlebt haben.
Das Buch “Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück” von Ines Geipel schaut in Kenntnis von Zahlen und Fakten noch einmal genau und differenziert hin: Unter Einbeziehung von persönlicher Erfahrung, von gelebter DDR-Realität, von der eigenen Familiengeschichte – und den Glücksmomenten zum Mauerfall. Ines Geipels Text ist komplex, reflektiert, geht tief und nach innen. Er sucht sein Selbstverständnis nicht wie so viele andere Texte in der Negation (Neid, Bürger zweiter Klasse, etc.), sondern redet über das Glück, zu dem sich die Ostdeutschen 1989 selbst verholfen hatten. Und nicht nur diese.
Ines Geipel: “Wieso haben die Geschichte, die Welt, die Alliierten oder wer auch immer den Deutschen so viel Glück ermöglicht? Noch dazu an diesem deutschen 9. November? Sie hätten auch nein sagen, abwinken, mit dem Kopf schütteln können. Es war doch klar, dass es sich um ein großes, ja unwahrscheinliches Glück handeln würde.”
“Fabelland” geht zurück zu diesem Moment des unwahrscheinlichen Glücks, als von all den Legenden, die 35 Jahre später erzählt werden, noch nichts zu ahnen war: Legenden vom besseren Gesundheitssystem der DDR, von besserer Bildung und Kindererziehung. Ines Geipel erinnert uns daran, dass kurz nach dem Mauerfall das Meinungsbild darüber ein gänzlich anderes war. Doch: “Je weiter der Befragungszeitpunkt vom eigentlichen Ereignis entfernt sei, desto diktaturfreundlicher falle die Erinnerung aus.”
Der Osten das Opfer und vom Westen kolonialisiert? Ines Geipel: “Dabei kam die Invasion, wie die Erinnerungsstrategen glauben machen wollen, nicht von außen, aus dem Westen. Sie kam von innen. Die Jahre nach der Revolution und die Hoffnung, dass es vorbei sei, dass es den Aufbruch, das Neue, das Glück gebe. Gab es ja auch. Aber eben auch das Gift nach dem Umbruch, die strategischen Umbauten, die politisch motivierte Gedächtnisumschreibung, das eminente Nein gegenüber der Einheit und dem Westen, die verleugnete DDR, das Weiterwirken ihres Stils, ihrer Logik, ihrer Gewalt, die Retraumatisierung des Binnenkollektivs, sein Aufenthalt im alten Bann.”
Bis 2014 ging es scheinbar nach vorn: Liberalismus, Demokratie, Marktwirtschaft. Ines Geipel: “Die Welt war offen, aber etwas schien sich nach innen zu verschieben.” Um 2015 kehrte mit der Flüchtlingskrise die politische Spaltung zurück und mit dem 24. Februar 2022 das Totalitäre, in etlichen Wohnzimmern gerechtfertigt als Verteidigung gegen den alten Feind, die Nato.
Dank Büchern wie “Fabelland” gibt es Hoffnung, dass nicht die Feinde der Demokratie Geschichte schreiben werden. Die Demokratie ist ebenso wie das Glück der Deutschen in großer Gefahr. Ines Geipel: „Wie umkämpft das Jahrhundertglück ist, denke ich. Wie es jeden Tag einen dreckigen Scheuerlappen ins Gesicht bekomt. Wie es kaum noch wagt, rauszuschauen und sich ein bisschen über sich zu freuen.“
Ein Buch zum Erinnern, zum erneuten Augenöffnen, zum persönlichen Nachspüren und Nachdenken: Was war unsere konkrete Sehnsucht im Jahr 1989, als sich der Klammergriff des Autoritären löste und die Welt sich öffnete? Wo stehen wir jetzt? Was ist geschafft, was unfertig, was unnötig? Dringende Leseempfehlung! Danke für dieses Buch.
Ines Geipel. “Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück”, erschienen bei S. FISCHER