Sprechen wir über Revolution

Sprechen wir über Revolution

Sonntag, der 4. August 2019 Aus Von Dorit Linke

von Dorit Linke

Laut Sonntagsumfrage liegt die AfD im Osten vorn.
Unfassbar? Natürlich.
Kopf in den Sand? Niemals.

Mein Artikel „Sprechen wir über Revolution“ ist im Moritz Magazin der Uni Greifswald im Mai 2019 erschienen

Wie jeden Morgen stellte er drei Teller auf den Tisch. Für Noah, für Elisa, für sich. Er goss Kaffee in einen Becher und griff nach dem Monatsblatt. Nr. 12 in 2035. Auf der ersten Seite der aktuelle Leitspruch: »Kinderkriegen ist keine Privatsache«, darunter Ausführungen zu den geplanten Geburtenraten. Er ließ das Blatt wieder sinken. Er konnte vieles ertragen, aber das nicht.

Wie sehr hatte sie gelitten, unter den Gesprächen mit dem Arzt, den penetranten Fragen. Sie hatte doch bereits ein Kind zur Welt gebracht, wieso tat sie sich mit dem zweiten so schwer? Er kippte Milch in den Kaffee, zitterte dabei, Tropfen zerplatzten auf dem Tisch. Fröhliches Vogelgezwitscher im Innenhof, ungewöhnlich, mitten im Winter. Elisa hatte diese Gespräche ertragen, sich mit Arbeit abgelenkt, sechzig Stunden die Woche. Weil ihnen das zugute gekommen war, hatte er sie nicht davon abgehalten. Sie brauchten das Geld, denn das Steuersystem änderte sich jedes Jahr, war unzuverlässig. Sie konnten nicht planen, schufteten wie blöd und fuhren nicht mehr in den Urlaub.

Er hielt das Monatsblatt dichter vor sein Gesicht. »Sonnenaufgang in Heringsdorf«, stand als einziges Stück auf dem Programm des Stadttheaters. Die günstigste Karte kostete hundertachtzig Neue Mark. Kultur musste ökonomisch sein, warum auch nicht. Shakespeare war out, was ihn nicht störte, schließlich hat er mit Hamlet und Co. noch nie was anfangen können.

Der Kaffee schmeckte etwas bitter. Werbung für Whisky aus der Lausitz, angeblich so gut wie schottischer Single Malt. Die hatten Humor. Es schüttelte ihn, und erneut dachte er an Elisa. Plötzlich war es schnell gegangen, erst das Burnout, das neuerdings »Simu-SD« hieß, die Abkürzung für Simulantensyndrom, dann der Alkohol, die Tabletten, die manischen Schübe. Nächtelanges Toben in ihrer Wohnung in der Großen Parower, aus der sie später raus mussten. Im Hanseklinikum kam Elisa an ein Messer und verletzte eine Krankenschwester. »Gefahr für sich und für Andere«, befand der Arzt. Sicherheitsverwahrung in Prora, auf unbestimmte Zeit.

Wie konnte so etwas möglich sein? Er dachte an Binz, an 2009, an das Beachvolleyball-Turnier am Ostseestrand. Elisa war Dresdnerin und nach dem Studium in den Norden gezogen. Er hatte bereits eine Ehe hinter sich, die kinderlos geblieben war, zum Glück. Das war unter diesen Umständen ein Segen.

Werbung für eine Schokoladenmarke, die Noah immer gern gegessen hatte. Dumpfes Gefühl im Magen. Nicht. An. Noah. Denken.

Er atmete tief ein, stand auf und nahm eine Scheibe Brot aus dem Regal. Keine Butter im Kühlschrank. Ratlos starrte er in das kühle Nichts, bevor er die Tür wieder zudrückte. Der einzige Laden, der Produkte offline anbot, war vier Kilometer entfernt. Er hatte keine Lust, stundenlang durch eiskaltes Wasser zu waten. Seinen schwulen Nachbarn konnte er nicht um Butter bitten, der öffnete niemandem mehr die Tür, misstraute allen.

Natürlich konnte er die Butter online bestellen, doch da Elisa noch immer in Verwahrung war, gehörte er zu den Suspekten, wurde kontrolliert. Er machte nur ungern etwas online. Ein Absolvent der Universität Rostock hatte ihm auf behördliche Anordnung hin eine App auf seinem Touchphone installiert, die ihn und seine Umgebung filmte, sobald er das Ding anstellte. Und er war verpflichtet, das zu tun, für mindestens zwölf Stunden am Tag, wobei die Zeit von Mitternacht bis morgens um sechs nicht mitzählte. Klebte er die Linse zu oder ließ das Phone offline (hatte er schon versucht, stand auch als fettes No-Go in den FAQ), schalteten sich Strom, Wasser und Heizung in der Wohnung automatisch ab.

Das Startup »KeDatSich« (»Keine Datensicherheit für Täter«) hatte mit dieser Innovation 2031 den Gründerwettbewerb der mittlerweile verstaatlichten UP-Bank gewonnen und sich zum reichsten Unternehmen des Landes entwickelt. Täglich wurde er von sich unvermittelt öffnenden Bubbles gezwungen, die App zu bewerten. Er vergab immer acht Sonnen, dann hatte er seine Ruhe. Waren es weniger, musste er begründen, warum er mit der Dienstleistung unzufrieden war.

Er brach ein Stück Brot ab, kaute darauf herum. Inzwischen war sein Becher leer, und er hatte ziemlich schlechte Laune. Im Kulturteil eine Aufforderung des Kultusministeriums an alle Privatschulen: So wie für die staatlichen Schulen bereits durchgesetzt, sollten im kommenden Jahr die Themen »Nationalsozialismus« und »Mauerfall« vom Lehrplan entfernt werden, schließlich war dieser, Zitat: »… einer positiven Darstellung der Heimat verpflichtet«. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Wieso denn der Mauerfall? Vielleicht sollte niemand mehr an die erfolgreiche Revolution der Ostdeutschen erinnert werden. Was einmal gelungen war, konnte schließlich auch ein zweites Mal gelingen.

Was hatte Noah gesagt, kurz bevor er abgehauen war?

»Ihr habt es 1989 im Osten doch geschafft! Ihr habt für eure Freiheit gekämpft und ein ganzes System gestürzt. Wieso habt ihr euch wieder alles wegnehmen lassen? Wieso habt ihr euch wieder für eine Diktatur entschieden?«

Ihm kamen die Tränen, nun doch. Nachdem Elisa fort war, sprayte Noah jede Nacht die Häuserwände mit radikalen Zeichen voll, erst hier im völlig verarmten Andershof und später in der noblen Altstadt, wo die Leute wohnten, die ihm das alles eingebrockt hatten. 2030 kam Noah wegen Sachbeschädigung ins Gefängnis, mit gerade mal elf Jahren. Als er wieder draußen war, war er ihm völlig fremd, der eigene Sohn. Keine Worte mehr, nur noch Schweigen. Mit fünfzehn packte Noah seine Sachen und haute ab. Nachdem er wochenlang verschwunden war, wurde er offiziell ausgebürgert, lebte nun als Staatenloser oben im Norden, irgendwo an einem Fjord, am Wasser. Ihm fiel wieder ein, was er vorhin auf AL2 gehört und noch nicht verinnerlicht hatte: Der Meeresspiegel war erneut gestiegen, Grund dafür war die nun ständige, sehr geringe Entfernung des Mondes zur Erde.

Sein rechtes Bein zitterte, er spürte, wie sein Puls schneller wurde. Hielten die ihn wirklich für so bescheuert? Vielleicht war er das ja. Schließlich hätte er all das kommen sehen können. Die Ausbürgerung von Kriminellen war schon immer Programmpunkt gewesen, am Anfang ausschließlich für Nicht-Deutsche, doch mittlerweile wurde der Passus auf alle Bürger angewendet. Und dieser Kinderwahn, der Elisa aus der Bahn geworfen hatte. Die Abschaffung der Rente! All das stand im Wahlprogramm! Kinder in den Knast, schwarz auf weiß! Er hätte es nur lesen müssen. Hätte sie nur beim Wort nehmen müssen! Stattdessen musste er, der ehemalige Geografielehrer, sich diesen Quatsch über den Mond und andere abstruse Erklärungen für den menschengemachten Klimawandel anhören, obwohl er an der Uni Greifswald eine sehr gute Ausbildung genossen hatte.

Doch was sollte er machen? Jetzt saß er da. Allein, mit trocken Brot. Mit einem schwulen, paranoiden Nachbarn, der sich tot stellte. Und wenn er nicht sofort, in diesem Augenblick, sein Touchphone anmachte, würde er zu frieren beginnen.

Für wen sollte das hier eigentlich alles gut sein? Nicht für ihn, nicht für Elisa. Nicht für Noah. Nicht für die Menschen, die er mal gekannt hatte.

Er wusste nicht mehr, warum er sein verdammtes Kreuz an der falschen Stelle gemacht hatte. Damals. Doch er wusste jetzt und hier, dass es falsch gewesen war. Das Kreuz war falsch gewesen, denn alles, was ihm jemals etwas bedeutet hatte, war weg.

Es war weg und kam nicht wieder.

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