Willkommen in der kuscheligen DDR
Mittwoch, der 10. Mai 2023Diesseits der Mauer von Katja Hoyer ist ein ärgerliches und aus der Zeit gefallenes Buch über die DDR
Was ist denn los: Erst Oschmann und seine steile These, die Ostdeutschen wären vom Westen erfunden worden und nun Hoyer mit dem Bedürfnis, eine „neue Geschichte“ der DDR zu verfassen, und zwar diesseits der Mauer. Hoyer will, wie sie selbst sagt, dem „Standardnarrativ“ etwas entgegensetzen, schließlich hätten nach dem Ende der DDR die Sieger die Geschichte geschrieben. Sieger? Verlierer? Willkommen im Kalten Krieg. Auch spricht sie damit munter den noch lebenden Ostdeutschen das Nachdenken über ihre Herkunft und die Fähigkeit zu schreiben ab, aber egal.
In Hoyers DDR gibt es keine Stasigefängnisse, dafür aber Fuchs und Elster und Weihnachten mit Frank Schöbel. In Hoyers DDR gibt es keine Täter, dafür nachträglichen Staatsbürgerkundeunterricht wie früher im schrabbeligen Klassenzimmer der 11. POS Friedrich- Engels: Antifaschismus als Gründungsdogma, die Notwendigkeit des Mauerbaus, DDR-Frauen emanzipiert, Völkerfreundschaft mit den Vertragsarbeitern, böser RIAS und so weiter und so fort. Hoyer redet von der DDR als Republik und meint das so. Ein Kapitel trägt die Überschrift: Der letzte Tag der Republik. Hoyer versteht darunter nicht: der Diktatur.
Das Buch ist aus der Sicht der damaligen Machthaber und jener geschrieben, die auf Linie waren oder ihre Interessen durchsetzen wollten. Aus der Verlagswerbung: „Katja Hoyer schildert jetzt vierzig Jahre deutschen Sozialismus aus der Sicht derer, die ihn selbst erlebt haben.“ Richtig wäre: „… die das sozialistische System getragen und von ihm profitiert haben.“ Es fehlen nämlich ganz bewusst all diejenigen, die die DDR auch erlebt haben, nur eben nicht rosarot leuchtend. Stattdessen nimmt Hoyers Buch die Menschen in Schutz, die zu Ungerechtigkeiten geschwiegen und keine Verantwortung übernommen haben. Hier ein Satz, der das im Zusammenhang mit dem Mauerbau zeigt, nachdem sich Hoyer seitenweise darüber auslässt, wie schwer es Ulbricht damals hatte und dass er gar nicht anders konnte: „Ostdeutsche, die das Land verlassen wollten, mussten von bewaffneten Grenzposten zurückgehalten werden.“ Sie nimmt nicht die Perspektive der Ostdeutschen ein, die in Freiheit leben wollten und ermordet wurden, sondern die der Grenzposten, die angeblich schießen mussten. Im Übrigen musste niemand schießen. Den Satz „Das mach ich nicht“ konnte man sagen, den haben nur eben nicht die Leute gesagt, für die das Buch geschrieben wurde.
Hoyer schreibt über Fechtner und andere Mauertote, um dann zu diesem Schluss zu kommen: „Die DDR-Regierung war bestrebt, das Blutvergießen in Berlin wenigstens zu begrenzen, vor allem in einer der heißesten Phasen des Kalten Krieges, in der solche Einzelfälle immer das Potenzial besaßen, zu einem verhängnisvollen Konflikt zwischen den Supermächten auszuufern. Mit allen Mitteln wurde die Berliner Mauer eilig weiter befestigt“. Die DDR schießt also auf Menschen und baut die Mauer, um das Blutvergießen, das sie selbst verursacht, zu verhindern. Schräge Dialektik.
Entstanden ist ein ärgerliches, geschichtsverzerrendes Buch, das ganz auf der Höhe der Zeit, also postfaktisch, daherkommt. DDR-Forschung und Aufarbeitung werden mit Ansage ad acta gelegt oder gar nicht erst bemüht, dafür gibt es die bahnbrechende Erkenntnis, die man spätnachts bierselig und auf jeder Dorfparty antreffen kann: Dass ja nicht alles schlecht war. Dass man doch ein schönes Leben hatte. Ach ja, die Autobahnen lassen grüßen. Manche von uns wissen es noch: Diktatur und Alltag voneinander trennen zu wollen, ist fatal und geht außerdem in die Hose.
Vielleicht sollte Hoyer mal irgendjemand sagen, dass diesseits der Mauer auch die Opfer des Systems lebten. Und das übrigens immer noch tun. Und dass die Stasi kein von übermächtigen Kräften errichtetes Baugerüst war, sondern dass es Menschen waren, die das System von innen heraus trugen. Daran ändert ihre „neue Geschichte der DDR“ nichts. Diesseits ihrer Mauer waren auch die Menschen, die im Knast oder in den Jugendwerkhöfen saßen. Menschen, die ihren Beruf nicht ausübten konnten, die darunter litten, dass sie unfrei waren, nicht frei wählen konnten. Die Menschen, die schikaniert, denunziert und gebrochen wurden, die Menschen, die Nachteile in Kauf nahmen, weil sie nicht zu Opportunisten werden wollten, Menschen, die nicht ihre Mitmenschen verraten konnten oder wollten oder zu allem schwiegen, was an Ungerechtigkeiten geschah. Warum sich Hoyer mit ihrem Buch so beherzt und mindestens auf die Seite der Mitläufer schlägt, tja, keine Ahnung.
Zumindest kann man ihr nicht den Vorwurf machen, dass sie den Opfern empathiefrei begegnet: Diese existieren in ihrer neuen Geschichte der DDR nicht mehr.
Katja Hoyer, Diesseits der Mauer, Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990
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Buchrezension von Norbert F. Pötzl von der Süddeutschen Zeitung:
Eine ganz kommode Diktatur
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